"schlimmer als der tod" ??
#1
Spiegel, 42/2007 15.10.2007

In Hamm hat ein Gericht Eltern erstmals erlaubt, ihr Kind sterben zu lassen. Die vierjährige Jule hatte fast ein Jahr im Wachkoma gelegen.

(der Artikel ist vier Seiten lang, ich verkürze ihn, auch die emotionalen Bilder können natürlich nicht wiedergegeben werden.)


Am 18. August 2006 lag das kleine Mädchen gegen Mittag auf einer Krankenhausliege, fertig zum Abtransport im Untersuchungszimmer. Sie sagte: “Papa, du passt doch auf mich auf.” Dann wurde sie weggeschoben.
Die Untersuchung sollte eine Stunde dauern. Die Eltern warteten neun Stunden. Es habe Komplikationen gegeben., teilte ihnen irgendwann irgendein Mediziner mit. Als die Eltern um 21 Uhr zu ihrem Kind durften, sah Jules Gesicht aus, als ob sie vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen Wäre.

Die Ärzte hatten sie in ein künstliches Koma versetzt, damit ihr Körper sich erholte. Durch einen dicken weißen Schlauch wurde Sauerstoff in ihre Nase gepustet, auf dem Brustkorb klebten Elektroden. Die Eltern erschraken. “Dann dachten wir aber”, sagte die Mutter, “so schlimm kann es auch nicht sein, schließlich sind wir doch in einem Krankenhaus.”

Erst später horten sie, dass der Arzt Fehler gemacht habe und ihr Kind bei der Untersuchung beinahe erstickt sei. Erst später erfuhren sie, dass Jule reanimieret worden war. Und erst viele Wochen später begriffen sie, dass Jule fortan unter einem apallischen Syndrom leiden wird, landläufig Wachkoma genannt.

(…)

Jules Körper drehte sich mehr und mehr. Einmal versuchte der Vater, gegen die Spastiken anzudrücken. Er legte sich zu seiner Tochter ins Bett und hielt mit der einen Hand ihren Bauch fest, während er mit der anderen ihren Brustkorb nach hinten drückte. Sacha Olaf R. ist ein kräftiger Mann mit großen Händen. Nach zwei Stunden gab er, vor Erschöpfung zitternd, auf. Jule drückte noch drei Tage weiter. Ein Arzt erklärte den Eltern, Spastiken könnten so stark werden, dass ein Mensch sich selbst das Bein aus der Hüftpfanne dreht.
In diesen Monaten wurde Jule Botox gespritzt, ein Gift, damit die Spannungen sich lösten.Wirksamer sei jedoch, so rieten die Ärzte, die so genannte Baclofen-Pumpe. Das Gerät ist so groß wie eine Computermaus und wird unter die Bauchdecke implantiert. Ein Schlauch leitet das Medikament von dort aus direkt in den Rückenmarkskanal. Auch eine Magensonde wurde nötig.

(…)

Zu den Ärzten sagten die Eltern, Jules Leben dürfe nicht weiter “brutal verlängert werden”. Die Ärzte in Hattingen schienen sie zu verstehen. Die Eltern sollten aber noch vier Monate warten, Erst dann könne man bei Kindern sicher sein, dass sie nie wieder erwachten.

(…)

Am 22. Januar dieses Jahres, die vier Monate waren verstrichen, rief Jules Mutter ind er Klinik an. Sie sagte, dass sie ihre Tochter in vier Tagen nach Hause holen wolle. Der Leiter der Kinderabteilung spaltete daraufhin die Behörden ein. Jule war apallisch, sie wirkte oft gequält”, sagte Boksch. Das Mädchen habe aber auch ruhige Phasen gehabt. Boksch glaubt, dass sie manchmal sogar “auf Streicheln reagierte” - was die Eltern freilich für Wunschdenken halten.

Am 24. Januar erreichte die Familie ein Fax. Es war eine “einstweilige Anordnung” des Amtsgerichts Minden. Die Richterin entzog den Eltern “zur Abwehreiner Kindeswohlgefährdung” partiell das Sorgerecht; das Jugendamt sollte fortan über Jules Behandlung bestimmen.
Sieben Wochen später kam es zur mündlichen Verhandlung Claudia B und Sascha Olaf R unterstützte Anwalt Wolfgang Putz von der Münchner Medizinrechteskanzlei Putz und Steldinger. Die Richterin blieb bei ihrer Meinung: “Jule ist nicht nur im biologischen Sinne noch am Leben.”
Die Eltern dürfen das Mädchen nicht sterben lassen, auch wenn “eine Verbesserung” seines Zustandes laut Boksch, “höchstens bedeuten könne, dass mit Hilfe einer verbesserten Medikation der Teufelskreis von Schmerz und Spastik durchbrochen “ werde. Sollte das gelingen, könne Jule vielleicht auch mehr vom Leben erfühlen.

Sascha Olaf R mähte gerade den Rasen, als Anfang April sein Handy klingelte, Ein Mitarbeiter des Jugendamtes Minden teilte ihm mit, so berichtet er, dass sie nun die Baclofen-Pumpe in Jules Bauch implantieren ließen. Der Vater flehte ihn an, es nicht zu tun Es half nichts.
“Das Schlimmste war” sagte Sascha Olaf R., “dass alle mit deinem Kind machen, was sie wollen.”

Einige Tage später wurde operiert. Als die Eltern danach die Kinderintensiv der Düsseldorfer Uni-Klinik betraten, hörten sie ihre Tochter bereits. Jule schrie. Der Körper des Mädchens verrenkte sich wie ein gequältes Tier in einer Falle.
Die Beschwerde, die Anwalt Putz in diesen Apriltagen an das Oberlandesgericht Hamm versandte, leist sich wie ein Brandbrief.
“Es geht in diesem Verfahren nicht darum, staatlich zu entscheiden, ob das Leben eines solchermaßen leidenden Wachkomapatienten lebenswert oder lebensunwert ist (da irrt er, genau darum geht es, und das weiß der Anwalt auch ganz genau, Anmerkung von mir) ”, schreibt Putz, "es geht in diesem Verfahren alleine darum, ob die Eltern mit der Entscheidung, Jule sterben zu lassen, ihren verfassungsrechtlich geschützten Entscheidungsspielraum überschritten haben. “

(…)

Claudia B. und Sascha Olaf R. aber befänden sich mit ihrer Ansicht, “Jules Weiterleben als schlimmer als den Tod” einzuschätzen, “im Einklang mit großen Gesellschaftsteilen”, schrieb Putz
(Womit er leider Recht hat, Anmerkung von mir). Deshalb sei ihre Entscheidung zu respektieren.

Das Oberlandesgericht entschied im Sinne der Eltern. Die beiden holten ihre Tochter am 4 Juni nach Hause. Sie wollten noch eine Woche mit Jule verbringe, “es ihr so schön wie möglich machen” . Dann sollte der Hausarzt das Sterben einleiten, indem er keine Nahrung und immer weniger Flüssigkeit gibt. Morphin sollte dem Kind die Schmerzen nehmen. Die Eltern dachten, sie hätten Zeit.

Der Rechtsstreit aber war noch keineswegs zu Ende. Die Verfahrenspflegerin, die vor dem Familiengericht die Interessen des Kindes vertrat, hatte das Bundesverfassungsgericht eingeschaltet.
Sie befürchtete, das Oberlandesgericht habe Jules “Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” sowie ihre “Menschenwürde” nicht ausreichend berücksichtigt.
Am 7. Juni sprang gegen Mittag das Fax der Eltern an. Sechs Seiten kamen heraus Die beiden lasen und erstarrten: Die hohen Richter hatten das Sorgerecht in Gesundheitsfragen zunächst für maximal sechs Monate wieder auf das Jugendamt übertragen. Sie müssten den Fall erst einmal prüfen, schrieben die Karlsruher Juristen.

Die Entscheidung kam nach der Zeit. Das Mädchen war da schon tot, sein Leichnam bereits in der Gerichtsmedizin. “Manchmal fragt man sich, ob Jule sich extra beeilt hat” sagt die Mutter.


Die Staatsanwaltschaft, so erfuhren die Eltern später, werde jetzt ein Ermittlungsverfahren gegen den Kinderarzt einleiten; man müsse klären ob er grobe Fehler bei der Untersuchung des Bronchialtumors gemacht habe.
Jule starb wohl an den Folgen des Hirnschadens. Der vermeintliche Tumor hingegen war verschwunden. Das war offenbar nur eine gutartige Schwellung.


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Ich beschrieb es ja schon unter einem anderen Thema hier. Die Pest, nicht wahr, jetzt wissen sie nicht, was tun?
päppeln oder in den tod schicken.
mal sehen welche fraktion den konsens für sich entscheiden wird. streng im sinne der Menschlichkeit natürlich. keinesfalls dürfen kostenaspekte oder bequemlichkeit eine rolle spielen. scherz!
http://www.huahinelife.de

Es ist unklug, das Leben nach dem Zeitbegriff abzumessen. Vielleicht sind die Monate, die wir noch zu leben haben, wichtiger als alle durchlebten Jahre. (Leo Tolstoi)
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Nachrichten in diesem Thema
"schlimmer als der tod" ?? - von ursel - 16.10.2007, 13:55
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von mike - 16.10.2007, 16:23
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von Sedolin - 16.10.2007, 18:31
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von Bea F. - 16.10.2007, 19:53
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von mike - 16.10.2007, 20:28
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von Sedolin - 16.10.2007, 23:00
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von mike - 16.10.2007, 23:41
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von Sedolin - 16.10.2007, 23:48
RE: "schlimmer als der tod" ?? - von mike - 17.10.2007, 00:25
[Kein Betreff] - von Totti - 17.10.2007, 06:47
[Kein Betreff] - von ursel - 17.10.2007, 11:49

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